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  • Stefanie Burr

Sie kommen im Dunkeln! Oder: Warum meine Speicherkapazität allmählich schrumpft.


Liebes Leben,

sie kommen im Dunkeln! Nachts, wenn ich ganz tief schlafe. Unbemerkt. Und sie verschwinden wieder, ohne dass ich etwas mitbekomme. Aber sie sind da. Ich weiß es!

Ich dachte immer, es wären kleine Außerirdische. Winzige Weltraummenschen, die Schläuche an mein Gehirn anschließen und es mir langsam aber stetig absaugen. Tag für Tag, scheinbar unauffällig und mit großer Beharrlichkeit.

Doch eines Tages kam mir mit meinem winzigen Restverstand ein Gedanke. Es müssen meine Kinder sein! Wie sonst lässt es sich erklären, dass sie mit jeden Tag schlauer werden und ich immer blöder? Ja, sie sind es, die sich nachts an meinen Kopf stöpseln, um mein ganzes Wissen und vor allem meine Speicherkapazität abzusaugen. Was konnte ich mir früher alles merken. Gedichte musste ich nicht lernen, ich habe sie lediglich ein paar Mal hintereinander durchgelesen. Ich brauchte keinen Terminplaner, ich hatte alles im Kopf. Namen, Geburtstage und Telefonnummern machten mir keine Probleme. Dann kamen die Kinder und mit ihnen die Löcher in meinem Kopf.

Dabei fing alles ganz harmlos an. Es begann damit, dass ich mir auf dem Spielplatz nicht mehr die Namen der Mütter, sondern nur noch die ihres Nachwuchses merkte. Das fand ich gar nicht so schlimm, weil ich feststellte, dass es der Emma-Mama und dem Anton-Papa genauso ging. Aber heute? Heute fallen mir ja oft nicht mal mehr die Namen der Kleinen ein! Schlimmer noch, wenn ich eines meiner Kinder rufen will, gehe ich bis zum richtigen Treffer erst die Bezeichnungen sämtlicher Familienmitglieder durch. Ein richtig schlechtes Gewissen habe ich allerdings, wenn ich bei Fragen zu den Geburtsjahren meiner Sprösslinge zunächst einmal scharf nachdenken muss. Also meiner Mutter wäre ich damals sauer gewesen.

Die Idee, mich nachts auf die Lauer zu legen und die Hirnabsauger auf frischer Dings, äh, Tat zu ertappen, habe ich wegen chronischer Übermüdung lange verworfen. Bis zu dem Vorfall, als ich im Kühlschrank neben der Milch eine Flasche Spülmittel entdeckte. Das ging ganz tief rein. Nun wollte ich es wirklich wissen und beschloss durchzuziehen. Nachdem ich mich ein paar Mal selbst erinnern musste, warum ich eigentlich noch wach war, bin ich irgendwann doch eingeschlafen.

Im Gegensatz zu mir findet der beste Mann von allen das alles sehr beruhigend. Er sagt, ich sei endlich auf Normalniveau angekommen. Weil ich schon von vielen Müttern gehört habe, dass es wieder besser würde, habe ich mich meinem Zustand ergeben. Solange ich nicht mit wirrem Haar und weißem Nachthemd durch die Innenstadt irre, lässt sich das alles wohl aushalten. Und wenn ich dann sehe, wie wunderbar sich meine Kinder entwickeln, dann vergesse ich gern, wie vergesslich ich geworden bin.


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