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  • Stefanie Burr

Scheiben, die den Himmel spiegeln


Junge Vögel wollen fliegen. Sie kennen keine Grenzen, der Himmel steht ihnen offen. Sie wissen nicht, dass es Scheiben gibt, in denen sich der Himmel nur spiegelt, nicht, dass dieses Blau eine einzige Täuschung ist. Sie fliegen einfach drauf los. Und wenn alles gut läuft, treffen sie nicht auf eine Scheibe. Oder ihr Aufprall ist mit etwas Glück so gering, dass sie sich kurz schütteln und um eine Erfahrung reicher wieder losstürmen. Aber im Leben läuft nicht immer alles glatt.

Neulich ist eine junge, ungestüme Amsel gegen unsere Scheibe geprallt. Der dumpfe Klang ließ uns aufschrecken. Die Kinder liefen sofort zur Terrassentür und sahen sie dort liegen. Auf dem Rücken, den Kopf zur Seite, bewegungslos. Sie riefen verzweifelt nach mir. Ob man sie retten könne oder reparieren?

Nein, das kann man nicht. „Ihre Mama ist jetzt ganz traurig“, schluchzte der Kleine, „die weint jetzt ganz doll“. „Ja.“ sagte ich und drückte ihn an mich. Die Großen standen still. Alle Traurigkeit der Welt kam in diesem Augenblick zu ihnen geflogen. Die Kinder nahmen sie in ihre kleinen Arme. Ohne sie zu bewerten oder zu erklären. Ohne sie zu unterdrücken, kleinzureden oder zu verstecken. Sie ließen sie einfach zu. Das hat mich sehr berührt.

So wie die tote Hummel, die vom Kater erlegte Maus oder der Regenwurm bekam auch der kleine Vogel eine gebührende Bestattung. Ein Loch wurde gebuddelt, ein Holzkreuz gezimmert, Blumen gepflückt, ein Lied gesungen. Es war sehr festlich.

Als die Zeremonie vorüber war, liefen die Kinder wieder in den Garten. Das Mädchen suchte vierblättrige Kleeblätter, die Jungs spielten Bergsteiger am Apfelbaum. Ich hörte sie lachen, fröhlich, im Hier und Jetzt. Und ich dachte: Das ist die wahre Kunst des Lebens.

Eigentlich braucht es keine Bücher über Achtsamkeit, buddhistische Weisheiten und Meditation. Es braucht nur Kinder, die so angenommen und gelassen werden, wie sie sind. Und natürlich Eltern, die deren ursprüngliche Weisheit erkennen und für sich nutzen können. Ich gebe zu, ich kann das nicht immer. Das macht mich gerade traurig. Vielleicht gab es auch in meinem Leben Scheiben, die den Himmel nur spiegeln. Aber das ist eine andere Geschichte.


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